Rückblick Kulturkirche 2025 1. Halbjahr

Im Kulturhauptstadtjahr 2025 hat sich die Kulturkirche2025 in Chemnitz zu einem einzigartigen Resonanzraum entwickelt – nicht allein für geistliche Impulse, sondern für eine Haltung: „C the unseen“ – Siehe das Ungesehene.
Dieses Motto wurde im bisherigen Jahresverlauf nicht als Schlagwort verwendet, sondern als Einstellung gelebt – es ist eine Einladung, jenseits des Offensichtlichen zu schauen, zu hören und zu verstehen.
So war bereits der Auftakt am ersten Advent mehr als eine feierliche Eröffnung – es war der programmatische Beginn eines Jahres, das das Unsichtbare in den Mittelpunkt stellt. Drei adventliche Predigtimpulse zu „Erwarten“, „Empfangen“ und „Weitergeben“ setzten nicht nur geistliche Zeichen, sie verbanden sich mit dem Kulturhauptstadtmotto in einer Weise, die spürbar machte: es geht hier um mehr als Events – es geht um Wahrnehmung, um Haltung und um ein anderes Sehen.

Diese Haltung zog sich wie ein roter Faden durch die vergangenen Monate. Räume für das Ungesehene wurden nicht nur liturgisch eröffnet, sondern auch ganz konkret in Szene gesetzt. Etwa bei der Ausstellung „Ich bin’s“, in der inhaftierte Frauen der JVA Chemnitz sich selbst porträtierten und ihre Stimmen über die Mauern hinweg in die Gesellschaft sandten. Oder in der Ausstellung „Frauen von Hoheneck“, die politisch inhaftierte Frauen der DDR ins Licht rückte. Hier wurden Geschichten erzählt, die lange Zeit nicht gehört werden durften. Die Kulturkirche2025 wurde zu einem mentalen Ort des Gedächtnisses – nicht als Archiv, eher als lebendiger Dialog mit der Geschichte.

Auch die spirituelle Dimension dieses „anderen Sehens“ wurde stetig vertieft. Gottesdienste als Sehschule fanden nicht nur an vertrauten Orten statt, sondern an überraschenden: zwischen Vitrinen und Grubenlampen im SMAC, zwischen Dampfmaschinen im Eisenbahnmuseum oder in Form der Europäischen Bergpredigten – auf Höhen und in Dörfern der Region, getragen von Stimmen aus Polen, Tschechien und Deutschland.
Besonders stark wirkte das ZDF-Fernsehgottesdienstformat, das das architektonisch kaum bekannte Kleinod St. Pius X. in Hohenstein-Ernstthal ins Zentrum rückte und zeigte: auch die Diaspora hat eine Stimme – und sie ist kraftvoll.

Doch das Unsichtbare wurde nicht nur liturgisch oder dokumentarisch erfahrbar gemacht. Kunst als Sehschule – dieser Gedanke durchzog viele Projekte. Die Neoninstallation GOOD GOD auf dem Turm der Schlosskirche irritierte die Betrachter und öffnete zugleich neue Deutungsräume.
Das partizipative Projekt Gemeinsam beflügeln brachte Menschen jeden Alters dazu, einen Engel mit ihren eigenen Flügeln zu versehen – Gedanken, Hoffnungen, Fragen in Form von Papierfedern.
Und die Auftaktveranstaltung zum Projekt Verlust & Finden – ein Labyrinthkonzert in einem Möbelhaus – verwandelte Alltagsräume in spirituelle Erfahrungsorte. Hier wurde das Motto der Kulturhauptstadt ganz existenziell: sehen, was fehlt; spüren, was trägt; finden, was verloren scheint.

Auch der öffentliche Raum wurde neu gelesen. Der Purple Path, künstlerisches Rückgrat des Kulturhauptstadtjahres, verband Gemeinden, Orte, Menschen über Skulpturen hinweg zu einem Erfahrungsraum. Ergänzt durch das Projekt Pipe Organ Path, in dem Orgelklänge regionale Kirchen zum Klingen brachten, entstand ein sinnenreicher Zugang zu Orten der Kulturhauptstadtregion. Die Kunstwerke auf dem Purple Path – etwa die Skulpturen Engel und Bergmann – wurden zu stillen Mahnern für Menschlichkeit und Geschichte. Sie stehen nicht nur, sie sprechen und sie zeigen.

Die Kulturkirche hat dabei immer wieder das Unsichtbare mit dem Politischen verbunden: im Friedensglocken-Treck, der quer durch Europa rollte. Ein Pferdegespann mit einer Glocke, gegossen aus Kriegsschrott, die durch elf Länder reist, gezogen von Entschlossenheit, getragen vom Ideal des Friedens. Als dieser Treck in Chemnitz Station machte, wurde der Marktplatz zum Resonanzraum für Gespräche, Musik, Begegnung und für ein Schweigen, das tiefer wirkte als jedes Programm.
Diese stille Entschlossenheit fand wenige Tage zuvor ihren akustischen Widerhall in einem starken europäischen Zeichen dieses Jahres: im Friedensläuten Europe Rings for Peace. Am Europatag, dem 9. Mai – genau 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in vielen Teilen Europas – stimmten europaweit Glocken in ein gemeinsames Läuten ein … Kirchen, Rathäuser, Schulen, Schiffe. Was zunächst wie ein einzelner Ton begann, wurde in wenigen Augenblicken zu einem Klangraum der Hoffnung, ein über Ländergrenzen getragenes Bekenntnis zur Verständigung. Auch die Partnerstädte Nova Gorica und Gorizia, mit denen Chemnitz den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt teilt, ließen ihre Glocken zeitgleich erklingen. Dieses vielstimmige Läuten war kein Event, sondern eine Gebetserhebung ohne Worte; hörbar, fühlbar, verbindend.
Beide Momente – der Friedenstreck und das Friedensläuten – stehen exemplarisch für das, was die Kulturkirche2025 im besten Sinne leistet: sie schafft Räume, in denen Erinnerung nicht lähmt, sondern in Bewegung bringt, Versöhnung nicht bloß Ziel ist, sondern Praxis und der europäische Gedanke nicht als politische Floskel erscheint, sondern als gelebte Wirklichkeit – zwischen Glockenschlag und Gespräch, zwischen Geschichte und Gegenwart.

Auch die Veranstaltung Sprechen zwischen Stühlen, lässt – ganz ohne Pathos, aber mit Würde – biografische Brüche aus DDR-Zeiten zur Sprache kommen.
Das Chormusical Martin Luther King, das mit über 1.500 Sänger:innen und zwei Vorstellungen in der Messehalle aufgeführt wurde, machte aus der Idee von Gleichheit und Gerechtigkeit einen klanglichen Erfahrungsraum. Es war kein reiner Event, kein bloßes Konzert, sondern eine Bewegung.
Diese Bewegung ist in der Sonntagskultur noch einmal verdichtet. Hier wurde und wird der Sonntag als spirituelle und soziale Ressource neu erschlossen. Zwischen Jazzgottesdiensten, Konzertvespern und stillen Begegnungsformaten wird das ganze Jahr über immer wieder deutlich, wie kostbar diese Unterbrechung im Strom der Woche ist.
Auch die Ankerpunkte – einfache Holzbänke mit den Worten Glaube, Hoffnung, Liebe – machen im Stadtraum deutlich: Spiritualität braucht keine Bühne.
Schon im ersten Halbjahr öffneten sich an vielen Stellen Europas Brücken: bei den Europäischen Bergpredigten, in der Kooperation mit der slowenisch-italienischen Partnerstadt Nova Gorica/Gorizia – oder in der Ausstellung zu Edith Stein, die in ihrer komplexen Biografie für eine zutiefst europäische Identität steht – jüdisch, christlich, weiblich, intellektuell, spirituell … und lange übersehen.

Doch es sind nicht zuletzt jene unsichtbaren Wirkungen, die sich eben nicht zählen lassen, und gerade deshalb das Herzstück des Kulturkirchenjahres ausmachen.
Was lässt sich schon messen an einer Träne im Auge eines Gastes, der das Ungesehene erkannt und entdeckt hat? Wie zählen wir das Schweigen, das in Kirchenräumen entsteht, wenn Menschen aus anderen Regionen, Konfessionen oder Lebenswelten hören, was es heißt, Kirche in der Diaspora zu leben? Wie dokumentieren wir den Moment, in dem ein kleines Pilgerbuch zum inneren Kompass einer Gruppe wird, die gemeinsam loszieht … nicht, weil sie das Ziel kennt, sondern weil sie bereit ist, miteinander zu sehen?
Diese weichen, schwer fassbaren Faktoren – sie sind die stillen Atemzüge dieses Jahres. Die vielen Gästegruppen, die aus dem ganzen Bundesgebiet und darüber hinaus nach Chemnitz reisen, um mit der Kulturkirche2025 in Kontakt zu treten, sich auf das Motto einzulassen, die „Sehschule“ kennenzulernen – und die verändert wieder abreisen. Es sind Begegnungen, bei denen nicht das fertige Programm zählt, sondern das geteilte Staunen, die aufrichtige Frage oder der bleibende Eindruck.
Oft gehen diese Menschen still, mit einem Heft in der Tasche, einem Satz im Ohr, einer neuen Ahnung im Herzen, wieder nach Hause, und tragen das weiter, was in Chemnitz begonnen hat. Es gibt keinen Ticketzähler, kein digitales Feedbacksystem für solche Prozesse. Doch es ist genau dieser „Boden unter den Füßen“, auf dem das Projekt Kulturkirche2025 steht – gewachsen aus Beziehung, getragen von Vertrauen, sichtbar nur für jene, die bereit sind, auch auf das Ungesehene zu achten.
Diese unspektakulären, oft unbemerkten Momente der Resonanz sind es, die das Kulturkirchenjahr zu mehr machen als einem Kalender voller Veranstaltungen. Sie verwandeln es in einen Prozess, der wirkt, nach innen wie nach außen – langsam, tief und hoffentlich nachhaltig.

So zeigt sich im Rückblick auf das erste Halbjahr der Kulturkirche 2025 eine klare Linie: keine Inszenierung um ihrer selbst willen, aber eine Schule des Sehens, Hörens, Erinnerns und Teilhabens. Die Kraft dieser Veranstaltungen liegt nicht in ihrer Zahl oder Größe, sie liegt in ihrer inneren Bewegung, in der Verwandlung von Unsichtbarem in Begegnung und in der Einladung, nicht nur Zuschauer zu sein, sondern Mitgehende.

„C the unseen“ ist in Chemnitz keine abstrakte Vision geblieben. Es wird zur inneren und äußeren Haltung … in Altarräumen, auf Marktplätzen, in Ausstellungen, zwischen den Menschen. Das Unsichtbare ist nicht länger verborgen, es ist da, mitten unter uns. Wer es sehen will, ist eingeladen.
Unser Weg geht weiter.