Verhaftet – verurteilt – und sonst noch?
Ein Versuch der Begegnung: ein multimediales Projekt mit Insassinnen der Justizvollzugsanstalt Chemnitz
Im Juni 2025 war drei Wochen lang in der Christuskirche Reichenhain die multimediale Ausstellung „ICH BIN’s“ zu sehen. Sie wurde am 4. Juni feierlich eröffnet – mit zahlreichen Gästen aus dem Justizministerium, dem Justizvollzug, der Kirchgemeinde und der Stadtgesellschaft.
Ziel der Ausstellung war es, inhaftierten Frauen zu begegnen – zumindest auf künstlerische und geistige Weise. Was wissen wir von jenen, die hinter den Mauern leben, die man von der Reichenhainer Kirche aus sehen kann? Was wissen wir überhaupt voneinander?
Unter anderen Umständen hätten wir diese Frauen vielleicht persönlich eingeladen, mit ihnen gesprochen, ihren Alltag kennengelernt – und gemeinsam nach Wegen der Begegnung gesucht. Doch das war nicht möglich: Die Frauen befinden sich in Untersuchungshaft, verbüßen Ersatzfreiheitsstrafen oder reguläre Freiheitsstrafen.
Und doch ist etwas geschehen: eine Begegnung. Ein Berührt-Werden – von innen nach außen. Pfarrer Daniel Förster erinnerte an den christlichen Auftrag, Menschen im Gefängnis nicht aus dem Blick zu verlieren, sie zu besuchen, ihnen nahe zu sein – auch im Gebet.
Seit Jahren gibt es Verbindungen zwischen Kirchgemeinde und JVA: durch Weihnachtsgeschenke, ehrenamtliche Besuche – und zuletzt durch gemeinsame Baumpflanzaktionen im Rahmen des Kulturhauptstadtprojekts „Gelebte Nachbarschaft“, an denen Inhaftierte, Gemeindemitglieder und JVA-Mitarbeitende teilnahmen.
Kunsttherapeutin Susanne Koch berichtete, wie intensiv sich die beteiligten Frauen mit ihrer Identität auseinandersetzten: Wer bin ich? Was macht mich aus?
Oft erleben sie sich als Gescheiterte – hier wurden sie zu Gestalterinnen: Sichtbar als Künstlerinnen mit ihren Bildern, eingesprochenen Texten, ihrer Verletzlichkeit und ihrem Mut zur Offenheit.
Diese Begegnung berührte. Hier wurde nicht bewertet – hier wurde zugehört, zugesehen, gefühlt.
Ein Gästebuch ermöglichte auch eine Rückmeldung „von außen nach innen“: Besuchende schrieben Eindrücke, Grüße und Wünsche an die Frauen. Das Buch wird nun in die JVA übergeben, wo die Beteiligten es lesen können.
Gefängnisseelsorgerin Anne Straßberger betonte: Die Frauen fühlen sich gesehen – sie bekommen ein Stück ihrer Würde zurück, durch unser Hinsehen, unser Interesse, unsere Verbundenheit.
Nach der Vernissage kam es zu vielen Gesprächen in kleinen Runden – mit einem Glas Wein oder Saft in der Hand. Menschen aus dem JVA-Bereich, aus Kirche und Stadt kamen miteinander in Kontakt.
Eike König-Bender, ehemalige Leiterin der JVA, zeigte sich bewegt – und bat eindringlich, an der Idee der Begegnung dranzubleiben.
Auch Jörn Goeckenjan vom Justizministerium war sehr beeindruckt vom Projekt. Für Jürgen Frank, den neuen Leiter der JVA Chemnitz, war es eine inspirierende Veranstaltung mit Perspektive auf weitere Begegnungen.
Zwei weitere Veranstaltungen begleiteten die Ausstellung:
Ein Konzert des Kirchenchors und ein Themenabend mit der Gefängnisseelsorgerin vertieften die Gespräche und die Begegnung.
Zum Schluss sei ein Lied von Helge Burggrabe zitiert, das vielen nachging:
„Schaue hindurch, was immer du siehst –
Schaue hindurch mit deines Herzens Auge.“
Zum Lied auf YouTube
Diese Ausstellung ermöglichte nicht nur die Begegnung mit inhaftierten Frauen –
sie berührte auch uns selbst: unsere Bilder, unsere Urteile, unsere Vorstellungen von Schuld, Reue und Würde.
Annette Meißner