Ein heilsamer Austausch auf Augenhöhe
Wie unterschiedlich Diktaturerfahrungen sein können und auf welche verschiedenen Arten und Weisen sie Menschen prägen, darum geht es im Format „Sprechen zwischen den Stühlen“. Menschen mit persönlichen oder familiären Diktaturerfahrungen treffen auf Personen, die vor aktuellen Diktaturen nach Deutschland geflüchtet sind. Die Abende sind inspiriert vom Konzept „Healing of Memory“ aus Südafrika. Der Austausch über das Erlebte in der Vergangenheit soll, Verständnis füreinander fördern und Versöhnung mit der eigenen Biografie ermöglichen.
Am 08. November folgten etwa 35 Besucher der Einladung in den „Open Space Chemnitz“. Kulturhauptstadtpfarrer Holger Bartsch war von 1988 bis 1989 Bausoldat in der Nationalen Volksarmee. Er traf im Gespräch auf Rolf Büttner, ehemaliger Grenzsoldat der DDR von 1986 bis 1989. Beide gaben einen persönlichen Einblick in ihr Leben und lasen unter anderem aus alten Briefen vor. Die Traurigkeit darüber, dass sich ein politisches System zwischen Menschen drängt und Schranken aufbaut, war zu spüren. Die Frage „Wie haben wir uns damals gefühlt?“ habe fast eine therapeutische Wirkung, sagt Holger Bartsch. Für viele war es ein dramatischer, fast traumatischer Einschnitt, als das DDR-System, das ihr Leben und Denken prägte, zusammenbrach. Doch bei den meisten werden diese früheren Erfahrungen kaum reflektiert, es gab bisher kaum Gespräche – auch aus Scham. Erst jetzt werden diese Brüche langsam thematisiert und aufgearbeitet. „Es ist Aufgabe der Christen, den Menschen beim Verarbeiten dieser Brüche zu helfen und Scham zu überwinden. Das bedeutet für mich persönlich, mich nicht länger als geschichtlicher Sieger von damals zu fühlen, sondern auf Augenhöhe die Hand zu reichen“, sagt Holger Bartsch.
Am 15. November war das Format zu Gast in der „Emmanuel-Church“, einer Gemeinde, die vorwiegend aus ehemals muslimischen Migranten besteht. Der iranische Musiker Danial Daryabat erzählte von seinem schmerzhaften Weg, wie er Einschüchterung und Verfolgung im Iran hinter sich ließ und nach Deutschland kam. Im Alter von 16 Jahren wurde er verhaftet, weil er ein Musikvideo mit Frauen ohne Kopftuch gedreht hatte. Es gab keine Verhandlung, keine Information über die Dauer seiner Haft. Nach zwei Jahren wurde er entlassen – mit einer Warnung: „Wenn du wieder singst und Videos drehst, töten wir dich!“ Durch einen Arbeitskollegen kam er in Kontakt mit einer Hauskirche und stieß dort auf angstfreie Menschen und eine heilsame Atmosphäre. Er kam zum Glauben an Jesus. Als diese Hauskirche verraten wurde, trat Danial über mehrere Länder die lange und beschwerliche Flucht nach Deutschland an.
Die Beteiligten der bisherigen Abende sind sich einig, dass das Teilen der gemeinsamen Erfahrungen heilsam war. „Die Decke des Schweigens, die sonst über solche Erfahrungen gelegt wird, hindert an der Aufarbeitung und Heilung und schwächt die gegenseitige Empathie. Erst über den gegenseitigen Austausch ist eine Annäherung möglich.“, so Pfarrer Bartsch. Die Abende sollen dazu dienen, noch mehr Menschen eine Begegnung auf Augenhöhe und einen wertvollen und heilsamen Austausch zu ermöglichen. Auch die Empathie für Flüchtlinge kann dadurch erhöht werden. Eine Fortsetzung des erfolgreichen Formates ist im Frühjahr 2024 bereits geplant.